Von Brezel über Baguette und Açaí nach Empanada

…oder: von Stuttgart über Paris und São Paulo nach Lima – 13.600 km in knapp 50 Stunden mit zehn Verkehrsmitteln und fünf Sprachen.

Weissach im Tal, Deutschland

Aufstehen, Frühstück.

Um 8.00 Uhr hole ich meinen Freund Christian vom Bahnhof ab, der die letzten drei Monate in Neuseeland verbracht hat. Es gab mal Pläne, dass wir uns dort treffen, was aber leider nicht funktioniert hat. Umso mehr freue ich mich, dass wir noch kurz Zeit für einen gemeinsamen Kaffee haben, bevor ich wieder los muss und Christian seinem Heimkehr-Kulturschock überlasse.

Stuttgart (Hauptbahnhof), Deutschland

Nach einer unspektakulären Fahrt mit dem Auto (danke, Babba) und der S-Bahn zum Hauptbahnhof nach Stuttgart bleibt mir noch bisschen Zeit um letzte Besorgungen zu machen bevor ich in den schnellsten Zug der Welt, den TGV [sprich: te-sche-we], mit Ziel Paris steige.

Mit teilweise 320 km/h heizt der Zug durch die Champagne. Von der Geschwindigkeit merkt man überhaupt nichts. Enttäuschend. Die Frau neben mir trinkt… Champagner.

302 km/h im TGV

302 km/h im TGV

Vor mir sitzt ein Kind, dass noch nicht begriffen hat, dass es nicht die anderen sind, die schlecht hören, wenn man selbst Kopfhörer benutzt. Es wird allerdings von den ca. sechzig 12-jährigen übertönt, die sich lauthals schreiend auf Klassenfahrt befinden.

Also kein Schlaf bis Paris.

Paris (Gare de l’Est / Gare du Nord), Frankreich

Zeit für ein Mittagessen. Ich decke mich mit Baguette, Salami und französischem Käse ein. Der Plan ist mit der Metro zum Notre Dame zu fahren, dort zu picknicken und dann weiter zum Flughafen. Die Zeit hätte auch gereicht. Jedoch hab ich meine Rechnung ohne die verrückte Parallelwelt gemacht, die sich einem mit einem Sprung in das Kaninchenloch hinter dem „Metropolitain“-Schild auftut.

Straße in Paris

Straße in Paris

Nach einer knappen Stunde Suche nach dem richtigen Gleis (Merde!), gebe ich auf, mache es mir auf einer Bank gemütlich, esse mein Baguette und mache mich dann auf zum Flughafen. (Nur dank der Aufmerksamkeit einer netten Parisienne bin ich in die richtige Richtung gefahren, denn die Bahnen fuhren an dem Tag wohl auf dem jeweils entgegengesetzten Gleis – ohne Hinweis – wtf?).

Baguette in Paris

Baguette in Paris

Paris (Flughafen Charles de Gaulle), Frankreich

Auf dem kilometerlangen Weg zum Gate komme ich mir ein bisschen vor wie in einer Raumstation… auf dem Meeresgrund… oder so.

Während ich auf das Boarding warte, genieße ich meine 15 Minuten Gratis-Internet. (Durch löschen der Cookies, kann man das beliebig oft wiederholen.)

Eine Zeit lang sitzt mir gegenüber eine Familie: Mama und Papa übergewichtig und der kleine Junge spielt mit seiner tragbaren Playstation irgend Augmented-Reality-Spiel, in dem die Umgebung mit einer Kamera ins Spiel integriert wird. Dabei muss der Junge bestimmte Farben im Raum finden und sie abballern. Immer wenn er etwas grünes sucht, findet er meinen Pulli, zielt mit dem Gerät auf mich und schreit so laut er kann „Peng! Peng!“ Dass er sich dabei in der Wirklichkeit befindet und auf Leute in seiner Umgebung zielt, scheint er nicht zu begreifen. Erweiterte Realität? Wohl eher verminderte

An Board des Fluges JJ8010, CDG – GRU

Juhu, endlich zum Boarding. Ich watschle durch die Gänge auf der Suche nach meinem Sitzplatz – mein Reich für die nächsten zwölf Stunden.

19G… 19G… Hm, außer mir sind nur französische Rentner im Flieger? 19G… 19G…

Gefunden: 19G. Drei Leute sitzen schon in der Reihe. Meinen enttäuschten Gesichtsausdruck kann ich kaum verbergen als ich erkenne, dass es sich um die Kleinfamilie vom Gate handelt – und der Kleine ist immer noch zocken. Während ich es mir gemütlich mache ist er wieder auf der Suche nach etwas grünem, wird wieder bei meinem Pulli fündig, und haut mir die Playstation gegen den Arm. „Peng! Peng!“ In der Hoffnung, dass mein schwarzes T-Shirt nicht so häufig im Spiel verlangt wird ziehe ich meinem Pulli aus und mache sofort Gebrauch von der Onboard-Unterhaltung und meinen schalldichten Ohrstöpseln. Nur noch zwölf Stunden…

Nach zwei guten Filme (Lincoln und The Campaign) passiert etwas unerwartetes: Schlaf. Zum ersten Mal in einem Flugzeug finde ich so etwas wie guten Schlaf – nur ein paar Mal unterbrochen vom Ellenbogen meiner übergewichtigen Sitznachbarin und französischem Geschrei des Rentners vor mir, der scheinbar auch noch nicht begriffen hatte, dass es nicht die anderen sind, die schlecht hören, wenn man selbst Kopfhörer benutzt.

Richtig wach werde ich letztendlich durch ein kleines Kind, dass mehrfach „Peng! Peng!“ schreit…

São Paulo, Brasilien

Um 5.oo Uhr Ortszeit stehe ich in der Schlange zur Immigration in Brasilien. Die zwei Stunden Wartezeit vertreibe ich mir mit einem guten Buch.

Beim Verlassen des Flughafens rieche ich sofort, dass ich in Brasilien bin. Die Sonne scheint, die Luft ist erstaunlich sauber, feucht und warm. Ich spüre, wie sofort Endorphine frei gesetzt werden, die mir Europas kalten Winter aus den Knochen treiben.

Sao Paulo von oben

Sao Paulo von oben

Mit Bus und Metro mache ich mich auf zum etwa 30 km entfernten Zentrum der 11-Millionen-Einwohner-Metropole. Ich verschaffe mir einen Überblick auf der Aussichtsplattform eines Bankgebäudes (Edificio Altino Arantes). Die brasilianische Antwort auf das Empire State Building gleicht einem Hochsicherheitstrakt – insgesamt werde ich persönlich von 15 verschiedenen Sicherheitsbeamten begleitet oder kontrolliert, mein Pass wird gescannt und ich werde fotografiert.

Sao Paulo von oben

Sao Paulo von oben

Nach dem Mittagessen (Açaí na tigela) mache ich in der Kathedrale ein kurzes Nickerchen. Selbst die Holzbank ist gemütlicher als der Flugzeugsitz.

Kathedrale von Sao Paulo

Kathedrale von Sao Paulo

Açaí na tigela

Açaí na tigela

Den Rest des Tages verbringe ich im Park, in Cafés, unterhalte mich mit dem/der ein oder anderen Brasilianer/in, halte mehrfach den Daumen hoch, lasse mir die Schulter tätscheln und grüße mit einem freundlichen „Oi, tudo bem?“ Eine Weile überlege ich mir ernsthaft ob, ich wirklich wieder zurück zum Flughafen fahre oder einfach in Brasilien bleiben soll.

Die Vernunft siegt jedoch und so geht es nach 14 Stunden Aufenthalt weiter nach Lima – nochmal 6 h Flug.

An Board des Fluges LA2766, GRU – LIM

Ich habe einen Fensterplatz. Die Person neben mir: eine kegelförmige stark übergewichtige ur-peruanische Frau. (Im Ernst, ich wusste nicht dass die Armlehnen so dehnbar sind…) Kurz nach dem Start fängt es an zu Gewittern. Links und rechts blitzt es. Das Flugzeug wackelt. Die Frau neben mir auch. Mehrfach muss ich meine Kopfhörer herausnehmen um der sich andauernd bekreuzigenden Frau neben mir zu versichern, dass wir heute nicht sterben werden (kein Witz). Als es irgendwann stark verbrannt riecht, bin aber auch ich mir nicht mehr ganz sicher. Ich schau nach rechts. Die Frau neben mir hat sich offenbar beruhigt und ist auf einer der zwei Sporttaschen auf ihrem Schoß in den Tiefschlaf gefallen. Mein Fluchtweg (und der zur Toilette) ist somit bombensicher versperrt.

Nachdem wir aus dem Gewitter draußen sind, wird die Bord-Unterhaltung „zur Wartung“ abgeschalten. Ah, da ist wohl was durchgeschmort. Somit wird auch mein dritter Versuch endlich mal den Film The Hangover zu Ende zu sehen jäh unterbrochen.

Gerade als es heißt „Bringen Sie ihren Sitz in eine aufrechte Position und klappen Sie Ihren Tisch hoch,“ klappt meine Nebensitzerin den Tisch herunter und beginnt das Zollformular auszufüllen, das wir vor dem Start bekommen haben (sie hatte ja nur sechs Stunden Zeit dafür). Es gibt nur ein Problem: Sie kann nicht lesen. Also darf ich das für sie übernehmen – schließlich hatte sie in der Nahtod-Situation des Gewitters eine tiefe persönliche Bindung zu mir aufgebaut.

Lima/Callao, Peru

Wir landen mit ca. 30 min. Verspätung in Lima. Die Ortszeit ist 23.40 Uhr und ich bin nun seit 45 Stunden unterwegs und will nur noch ins Bett.

Die nächsten zweieinhalb Stunden verbringe ich jedoch in Warteschlangen und Diskussionen bei der Immigration und der Gepäckausgabe. Die Geschehnisse in dieser Zeit wären zwar eine Erzählung wert, würden aber den Rahmen sprengen.

Überrascht stelle ich fest, dass der bestellte Taxifahrer gewartet hat. Noch überraschter bin ich als er fließend deutsch mit mir spricht – er hat Vorfahren aus der Schweiz und seine Mutter wohnt nur 6 km von mir entfernt wohnt (Nellmersbach). Die Welt ist klein. Ich habe jedoch keine große Lust zum reden und bin ohnehin verwirrt von den fünf Sprachen, die ich in den letzten 48 Stunden verwendet habe. Und ich will ins Bett.

Weil es draußen so warm ist haben wir während der Fahrt das Fenster unten. Es riecht nach Abgasen und Staub, später nach Fisch und Salzwasser. Kurz gesagt: nach Lima. Nach einer weiteren dreiviertel Stunde komme ich endlich am Ziel an. Ich bin froh, dass alles gut gegangen ist und falle sofort ins Bett. Ende der Geschichte.